ÜBER ENTSCHEIDUNGEN UND ORIENTIERUNG MIT KIM LUCIA DEUTSCH
Man sagt, nichts sei schlimmer als in Unklarheit zu verharren. Ich für meinen Teil kann mit Vehemenz behaupten, ich kenne kein befreienderes Gefühl, als wenn (endlich) eine Entscheidung getroffen wurde. Ob von uns selbst oder von einem Gegenüber, Klarheit ist für mich essentiell, um meine Energie wirkungsvoll einzusetzen. Sei es die Frage nach dem nächsten Urlaubsort, Job oder einer bevorstehenden Trennung - kraftvolle Entscheidungen zu fällen kann unglaublich selbstwirksam sein. Warum also schieben wir sie dann vor uns her?
Diesen Fragen sind wir gemeinsam mit Kim Lucia Deutsch nachgegangen. Als Wissenschaftlerin beschäftigt sich Kim intensiv mit Erwachsenenbildung und gesellschaftlicher Transformation. Dabei trägt ihre Dissertation den fancy Titel: “Orientierung unter Bedingungen gesellschaftlicher Transformation”. Ich persönlich könnte Kim stundenlang zuhören, wenn sie voller Leidenschaft in dieses komplexe Thema eintaucht.
Kim, du beschäftigst dich beruflich mit dem Thema Entscheidungen und wie sich Orientierungsprozesse in den vergangenen Jahren verändert haben. Was genau bedeutet es, eine Entscheidung zu treffen?
K I M : Eine Entscheidung zu treffen bedeutet zunächst Optionen zu haben. Aber das allein genügt nicht. Beispielsweise entscheide ich in der Regel nicht täglich aufs Neue darüber, welchen Weg ich zur Arbeit nehme, sondern lege die Strecke mehr oder weniger automatisiert zurück. Es gäbe aber sicher auch noch mindestens eine andere Strecke oder Möglichkeit, zum Arbeitsplatz zu gelangen. Würde ich darüber nachdenken, abwägen und dann eine der Optionen wählen, treffe ich eine Entscheidung. Eine Entscheidung zu treffen bedeutet also, Optionen zu haben und sich diese bewusst vor Augen zu führen, um dann eine der Optionen auszuwählen.
In der Tat läuft nur ein kleiner Teil unseres alltäglichen Handelns entscheidungsförmig ab. Der Großteil ist eher routiniertem Handeln zuzuordnen. Das ist auch wichtig, um Komplexität zu reduzieren: Würden wir uns vor jeder Handlung jedes Mal aufs Neue alle Optionen bewusst machen, kämen wir nie ins Handeln.
"Sich entscheiden zu können ist eine Freiheit, die viele Generationen vor uns nicht hatten."
K I M L U C I A D E U T S C H
Gibt es tatsächlich einen Unterschied, wie wir uns heute entscheiden, im Vergleich zu früher?
K I M : Ja, es gibt schlichtweg viel mehr Entscheidungen zu treffen als früher. Hinzu kommt, dass unsere Umwelt wesentlich komplexer geworden ist. Wichtig ist zu verstehen, dass die Möglichkeit zur Entscheidung an sich ein Privileg ist, denn zunächst bedeutet es eine Freiheit, die viele Generationen vor uns nicht hatten. Auf der anderen Seite geht mit dieser Möglichkeit aber auch enorme Verantwortung einher, denn wer entscheidet, muss auch die Konsequenzen tragen. Als Beispiel kann man hier die Berufstätigkeit von Müttern nehmen: Mitte des 20. Jahrhunderts stellte sich für einen Großteil der Mütter die Frage der Berufstätigkeit noch nicht. Heute muss man als Mutter jede Form und Ausprägung von Berufstätigkeit begründen, unabhängig davon, ob man arbeitet oder nicht. Dadurch, dass immer mehr Freiheitsräume erkämpft werden, liegt also auch immer mehr gesellschaftliche Verantwortung beim Einzelnen.
Man nennt uns die Generation "Vielleicht". Warum fällt es uns so schwer, uns zu entscheiden und warum fühlen wir uns manchmal damit überfordert, die Wahl zu haben?
K I M : Entscheidungssituationen nehmen faktisch zu, da immer mehr der individuellen Entscheidung obliegt: Wohnort, Beziehungsform, Religion – alles ist möglich. Das ist auf der einen Seite sehr befreiend, auf der anderen Seite auch herausfordernd. Denn mit jeder Entscheidung für etwas, geht auch eine Entscheidung gegen alle anderen Optionen einher. Wenn von außen vorgegeben wird, was die zu treffende Wahl ist, ist das manchmal sogar einfacher, als sich selbst durch eine Entscheidung zu limitieren.
Was hilft uns dabei, Orientierung zu finden?
K I M : In den Sozialwissenschaften spricht man hier von Orientierungsinstanzen, d.h. dass wir unser Handeln auf eine gewisse Instanz hin ausrichten, zum Beispiel nach Werten oder Normen. Für uns als handelnde Person manifestiert sich das Ganze dann etwas weniger abstrakt in einem Handlungsziel. Orientierungslos fühlen wir uns also, wenn wir für uns kein Ziel identifizieren können. In so einem Moment hilft es, sich als ersten Schritt genau das bewusst zu machen: Die Ursache der Orientierungslosigkeit ist das Fehlen eines Ziels und das Fehlen eines Ziels hängt mit Unsicherheit gegenüber der Handlungsinstanz zusammen. Hat man sich das eingestanden, ist es leichter über den eigenen Zustand zu reflektieren, um dann neue Ziele für sich zu definieren.
Müssen wir uns überhaupt entscheiden? Können wir nicht manchmal auch Dinge einfach aussitzen oder uns von außen treiben lassen?
K I M : Tatsächlich ist das ‚in einer Situation Ausharren‘ sehr beschreibend für unsere Gegenwart. Das liegt u.a. daran, dass wir den Anspruch haben, immer die beste Option zu wählen. Das heißt, reflektierte, sorgfältig abgewogene Entscheidungen zu treffen, die von außen auch als solche wahrgenommen werden. Tatsächlich ist es aber oft schlichtweg unmöglich, alle Optionen und ihre Pro- und Contra-Argumente gegeneinander aufzuwiegen. Man muss sich also davon lösen, allem gerecht werden zu wollen. Das ist auch dadurch bedingt, dass über lange Zeit etablierte Wert- oder Normstrukturen aufbrechen und eine Vielzahl verschiedener Werte und Normen miteinander konkurrieren. Dadurch wird es immer schwieriger, sich treiben zu lassen. Denn in der Unübersichtlichkeit besteht die Gefahr, Entscheidungen aufzuschieben oder sich an (zu) einfachen Lösungsangeboten zu orientieren. Das ist insofern problematisch, als dass die Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, auch schwierige Situationen und Herausforderungen selbst meistern zu können, darunter leidet.
Ich persönlich liebe es Entscheidungen zu treffen. Ich bin stolze Pragmatistin und habe die Erfahrung gemacht, dass eine Entscheidung größer, ja beinahe übermächtig wird, je länger ich sie vor mir herschiebe. Eine klare Entscheidung zu fällen, kann sich hingegen sehr kraftvoll und befreiend anfühlen. Hast du Tipps, die den Entscheidungsprozess vereinfachen?
K I M : Wenn du von einem kraftvollen, befreienden Gefühl in Bezug auf Entscheidungen sprichst, dann ist das zurückzuführen auf die Selbstwirksamkeit. Denn sich für etwas und damit gegen die anderen Optionen zu entscheiden, ist eine Leistung. Es fühlt sich gut an, Entscheidungen zu fällen, weil es bedeutet, Komplexität dadurch zu reduzieren, alle anderen Optionen auszuschließen. Zumindest für den Moment.
Wenn Endscheiden schwerfällt, hilft es, sein Handeln nicht an die Bedingung eines großen, allumfassenden Lebensziels zu knüpfen, sondern mit kleineren Zielen zu starten, die man auch daraufhin prüft, inwiefern sie gut zu erreichen sind. Eine Methode hierzu ist bspw. die SMART-Methode. SMARTE Ziele sind: spezifisch, messbar, erreichbar (achievable), realistisch und Ressourcen-orientiert sowie planbar (time bound).